„Wenn du nicht weißt, wo du hingehst, wird dich jede Straße dorthin bringen.”
Lewis Carroll (britischer Schriftsteller, Autor von Alice im Wunderland)
Ein besonderer Ort in Tunis ist die geschichtsträchtige Altstadt. Die Medina ist eine der am besten erhaltenen der islamischen Welt. Eigentlich heißt „Medina“ auf Arabisch „Stadt“, doch das Wort wurde während der Kolonialzeit Tunesiens abgegrenzt, um sich auf die „Altstadt“ im Gegensatz zu der nebenan errichteten „modernen Stadt“ zu beziehen.
Unterschätztes kulturelles Erbe
Die zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärte Medina beherbergt etliche Paläste, Moscheen, Koranschulen und Mausoleen. Vom 12. bis 16. Jahrhundert galt Tunis laut UNESCO als eine der reichsten Städte der islamischen Welt. Derzeit sind etwa 50 öffentliche Gebäude in der Altstadt geschlossen, darunter das Torbet El Bey, ein königliches Mausoleum. Das Kunsthandwerk der Medina, welches ebenfalls zum magischen Charme beiträgt, muss sich hingegen an dieser Stelle neu erfinden. Seit Jahrhunderten übertragen die Väter ihr Handwerk auf ihre Söhne. Doch Mittlerweile sind viele traditionelle Handwerk vom Aussterben und Vergessen bedroht, weil es zum einen die heute gut ausgebildeten Jugendlichen in moderne Berufe zieht. Zum anderen sperren sich einige Kunsthandwerker aus Furcht vor Konkurrenz dagegen, ihr Wissen an Fremde weiter zu geben.
Während des Zweiten Weltkriegs lebten auf den 270 Hektar der Medina etwa 100.000 Menschen. Mittlerweile ist die Bevölkerung auf weniger als ein Viertel gesunken, obwohl die Altstadt von Tunis einst das wirtschaftliche und politische Zentrum der Hauptstadt war. In den 60-er und 70-er Jahren zogen die früheren Einwohner der Medina, die sogenannten „Beldis“, in die neuen außerhalb liegende Wohnsiedlungen. In diesen Jahrzehnten sorgte Tunesiens erster Präsident Habib Bourguiba im Rahmen seiner „Modernisierungs“-Vision für den Bau neuer Straßen, die allerdings Teile der traditionellen Stadt zerstörten. Investiert wurde nur noch in die Vororte. Die verlassene und teils dem Verfall geweihte Altstadt gewann mit der zugewanderten armen Landbevölkerung neue Bewohner. Doch ihr Zustrom ließ die Medina als „en un quartier en crise“, also als Distrikt in der Krise zurück.
Viele Vorstädter betiteln die Altstadt als dreckig, ärmlich oder während der Nacht sogar gefährlich. Meines Erachtens gilt auch hier, sich entweder seiner Wurzeln zu entsinnen oder erst einmal vor der eigenen Tür zu kehren. Das in Tunesien allgegenwärtige Müllproblem empfinde ich außerhalb der Altstadt, an Bahnhaltestellen, Straßen usw. präsenter als in den Gassen der Medina. Sicherlich halte ich Handtasche oder Portemonnaie ein bisschen fester, sobald die Gassen enger scheinen und es zu kleinen Fußgänger-Staus kommt, aber das mache ich genauso in jeder deutschen Großstadt. Gefahren und Kriminalität können ebenso überall lauern – selbst hier in Europa.
Auf geht’s
Teils überdachte, holprige, enge Gassen um die Moschee Ez-Zitouna bieten ein thematisch gegliedertes, buntes, vielseitiges Warenangebot. Vieles was in den kleinen Geschäften verkauft wird, entsteht in den Hinterhöfen und kleinen Seitengassen noch in Handarbeit. So findet man beispielsweise im „Souk el Attarine” alles, was für eine typisch tunesische Hochzeit benötigt wird, wie Stoffe, pastellfarbene Seidenblüten und üppig dekorierte Geschenkkörbe. Eine ganze Gasse gehört bunten Lederschlappen und bildet den „Souk des Blaghjiyas”. Die nächste Gasse bietet traditionelle Kopfbedeckungen aus Filz, den sogenannten „Chéchias”, bei deren Herstellung man sogar zuschauen kann.
Übernachten in der Medina
Wir haben für diesen Aufenthalt ein Zimmer im El Patio Courtyard House gebucht, einem traditionell gebauten Haus mit Innenhof, mitten im Labyrinth der Medina. Hier ist es manchmal wirklich nicht leicht, sich zurecht zu finden: Der Taxifahrer scheint auch ratlos und entlässt uns am westlichen Tor zur Medina, dem Bab Menara, denn mit dem Wagen passt er mit Sicherheit nicht durch die Gassen. Mit unseren Rollkoffern auf Kopfsteinpflaster bewegen wir uns lautstark voran bis zur blauen Eingangstür, wo Khaula uns herzlich in Empfang nimmt. Das El Patio Courtyard House ist eine wirklich liebevoll gestaltete Perle im Herzen der Altstadt: ein detailreiches, farbenfrohes Erlebnis, das mit viel Engagement von Khaulas Familie restauriert wurde. Von der handbemalten Tür, bis hin zu einer liebevoll zusammengestellten Dekoration. Hier steckt sehr viel Liebe drin! Mit der Intuition, die Altstadt von Tunis aufzuwerten, hat insbesondere Khaula mit viel Talent und mit der Unterstützung von ausschließlich lokalen Handwerkern dem Haus aus dem 18. Jahrhundert neues Leben eingehaucht und es in ein kleines Gästehaus verwandelt.
Nach kurzer Orientierung, stellen wir fest: Hier an der Rue Tourbet El Bey sind wir wirklich mittendrin – bloß in einem Teil, in den wir uns zuvor einfach noch nicht verirrt hatten. Der Gelehrte Ibn Khaldoun, dessen Statue gegenüber der Kathedrale, am Anfang der Avenue Habib Bouguiba steht, wurde in dieser Straße geboren, studierte und lehrte in der naheliegenden El Koba Moschee in der Nachbarschaft. Das Haus liegt nur wenige hundert Meter von den berühmtesten Orten der Medina wie der Ez-Zitouna Moschee, dem Regierungssitz und der Bey-Paläste aus dem 17. und 18. Jahrhundert und den überdachten Souks entfernt.
Unterwegs in der magischen Medina
Nach zahlreichen Aufenthalten in Tunis, haben wir mit der Zeit ein paar interessante Menschen kennenlernen dürfen und Freundschaften geschlossen:
Am Ende der Gasse der Kupferhändler im „Souk Nahas” ist ein kleiner unscheinbarer Süßigkeitenstand platziert. Es ist mittlerweile ein Ritual für uns geworden, ausschließlich dort Makroudh (frittiertes Dattelgebäck) bei „unserem” Franz Beckenbauer zu kaufen. Wir kennen seinen Namen nicht, doch als wir bei unserer ersten Begegnung erzählten, aus Deutschland zu kommen, berichtete der ältere Herr voller Enthusiasmus, dass sogar schon Franz Beckenbauer bei ihm Makroudh gekauft hätte. Er hat sogar ein Bild von seinem Idol über dem Topf mit dem heißen Fett hängen.
Auf der Suche nach einem Lehrbuch inkl. CD in tunesischer Sprache landeten wir vor einigen Jahren in dem kleinen Buchladen „Diwan”, direkt hinter der Ez-Zitouna Moschee. Da der Besitzer Sufyan einen lockeren Umgang mit seinen Öffnungszeiten pflegt und wir uns so mehrfach verpassten, kamen wir einmal tatsächlich erst nach 2 Wochen dazu, ihn endlich wieder anzutreffen, um die CD zu bezahlen, die er uns zum Probehören mitgegeben hatte.
Zu dritt ist der Laden eigentlich schon überfüllt, aber ungeheuer charmant. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: vergilbte Poster zieren die kleinen Lücken zwischen den grün gebeizten Regalen. Der maximal 10 qm große Verkaufsraum, mit Bücherregalen bis zur Decke und einer stilechten Schiebeleiter, für die oberen Etagen ist mit allerlei literarischen Schätzen und herrlichen Bildbänden aus Tunesien ausgestattet. Während Raja und Sufyan stets ein ausgiebiges Pläuschchen übers Geschäft, die Familie und die Gesundheit halten, habe ich hier schon so manches seltene Exemplar aus den Regalen gezogen. Auch das ist ein Ritual geworden: bei einem Besuch in der Medina, schauen wir stets mit zartbitterer Schokolade aus Deutschland bei Soufyan vorbei.