Kunst und Kultur in Downtown Tunis

Ob Teppiche, Gewürze oder Schmuck – in der Medina findet man alles. Das Tolle ist, auch wenn man denkt, man kennt dort schon alles, so entdeckt man doch bei jedem Spaziergang durch die Gewölbegänge der Souks immer etwas Neues. In der Medina verschmelzen unter islamischen Vorzeichen verschiedene kulturelle Traditionen von Berbern, Arabern, Osmanen, spanischen Muslimen und vielen Weiteren. 

Leider hat das kulturelle Erbe der Medina von Tunis keine staatliche Priorität wie Sicherheit, Landwirtschaft oder Tourismus. Ein Trugschluss! Dafür versuchen jetzt Künstler, Anwohner und zivilgesellschaftliche Initiativen, die Altstadt wiederzubeleben, indem sie die Aufmerksamkeit auf das historisch wichtige Viertel lenken. Insbesondere junge Menschen zieht es langsam wieder zurück; sie empfinden die Medina als hip und als Treffpunkt des Austausches. Mit ihrem Engagement soll das Image der Medina verbessert werden und  eine vielfältige, spannende Kultur einziehen. 

Ein deutscher Architekt mitten drin

Ich sah vor kurzem eine Doku über Tunis, in der ein zugezogener deutscher Architekt und Doktorand die Zuschauer durch die Medina von Tunis führte. Sein sympathisches Auftreten, das ehrliche Interesse und sein Einsatz für die Medina bewegten mich dazu, Raoul zu kontaktieren. Raoul ist total unkompliziert, herzlich, nett und offen. 

Unser erstes Treffen findet aufgrund der aktuellen Corona-bedingten Reisebeschränkungen virtuell statt. Er lädt uns als erstes auf seine Dachterrasse ein und wir bewundern per Skype den strahlend blauen Himmel über der Zitouna-Moschee. Nur einen Katzensprung entfernt, hat Raoul in einem traditionellen Stadtpalast sein neues Zuhause gefunden und sich typisch tunesisch eine gemütliche Oase mitten in den engen, verwinkelten Gassen der Souks geschaffen. Wie schöööön! 

Raoul schmeißt sich in die Hängematte und wir plaudern.

Wieso Tunesien?

Das ist die Frage, die mich brennend interessiert. „Wow, lange Story!” ist Raoul’s erste Reaktion. Raoul arbeitete viel für den Deutsch Akademischen Auslandsdienst (DAAD), pendelte nach der Jasminrevolution für verschiedene Projekte zunächst von seiner deutschen Heimat nach Kairo und landete schließlich in Tunesien

Schon bei seinem ersten Besuch in Tunis verliebte er sich in den Charme der Stadt. Mit dem Institut für Auslandsbeziehungen blieb er Projekt eines partizipativen Altstadtmagazins (Journal de la Médina) im Rahmen seiner Dissertation dort. Das vorher absolvierte Studium in Frankreich und die damit einhergehenden guten Französischkenntnisse erleichterten die Entscheidung. Alles schien in Tunis von Anfang an einfacher: hier anzukommen, sich zu integrieren, Kontakte zu knüpfen. 

Wir sind uns an dieser Stelle einig: die Leute in Tunesien sind offen, herzlich, hilfsbereit – ein Herzensland.

Gab es Bedenken? 

Auf meine Frage, ob Raoul’s Freude und Familie nie Bedenken äußerten, lächelt er und winkt lässig ab: „Das sind die schon gewohnt!” Nach zahlreichen Reisen und (Arbeits-)Aufenthalten in den entlegensten Regionen der Welt von China, über Südamerika bis Ägypten, stellen wir fest: wenn man etwas will, Spaß daran hat und offen ist, kommt man überall zurecht.

In Tunis fühlt Raoul sich richtig wohl und ein Stück weit daheim. „Hier ist es mega entspannt. Nach Ägypten, Algerien, Libanon und allen anderen Ländern der Mittel- und Nordafrika-Region, die ich schon kennengelernt habe, ist Tunesien das coolste, angenehmste und schönste Land!” Besonders Raja freut es, das zu hören und schnell zieht sich sein Grinsen von einem Ohr zum Anderen.

Raoul ist hier zu Hause

Raoul ist während der letzten fünf Jahre ein paar mal innerhalb der Hauptstadt umgezogen: Nach der ersten Station in der Nähe des Bab Souika, zog es ihn über Kherba, schließlich ins Herz der Medina. Im Zusammenhang mit der Wegbescheibung zu seinem alten Stadtpalast, in einer der farbenfrohsten Gassen der Souks, empfiehlt uns Raoul ganz nebenbei eines seiner Lieblings-Restaurants der Medina für unseren kommenden Tripp: Im Dar Slah kreiert und interpretiert Küchenchef und Besitzer Sadri Smoali traditionelle Gerichte auf seine eigene moderne Art. Jetzt kommt zum Heimweh auch noch Appetit –  wir freuen uns also noch viel mehr auf den nächsten Besuch. Die Speisenkarte checken wir aber schon mal vorab!

Raoul berichtet, dass auch heute, einige Jahre nach der Doku, die auch mich auf ihn aufmerksam machte, tatsächlich immer wieder Leute seinen Weg in der Medina kreuzen, die ihn aus dem TV-Bericht erkennen – und das gleichermaßen von Einheimischen oder auch Touristen. Mich wundert es nicht, denn der großgewachsene, herzliche Mensch am anderen Ende der Leitung, mit kinnlangen Locken ist einfach ein Typ, der nicht zu übersehen scheint. Sein Tunesisch hört sich nach den Jahren in der Medina super und akzentfrei an, auch wenn er behauptet, dass er nur das Nötigste an Vokabular beherrscht.

Raja und ich lieben die Medina. Auch wenn wir dort nicht unbedingt etwas erledigen müssen, wir oft in Eile sind und Termine haben, bummeln wir durch die Gassen und genießen das bunte Treiben. Viel über die kreative, hauptsächlich junge Szene und deren Entwicklung innerhalb der Medina bekommen wir von Deutschland aus nur sehr schwer mit. Auch über die sozialen Medien lässt sich vieles leider kaum verfolgen. 

Abgesehen davon, dass in den sozialen Medien bekanntermaßen einiges geschönt wird, finden laut Raoul die wirklich spannenden Aktivitäten, die erwähnenswert wären, oft keine ausreichende Aufmerksamkeit, was zu einem verzerrten Bild führt, wenn man nicht selbst regelmäßig vor Ort ist.

Forschung und Förderung rund ums traditionelle Leben

Raoul kam als Stadtplaner und Architekt nach Tunis, um zum Thema „(Wohn-)Zufriedenheit von Menschen in traditionellen Wohnformen“ zu forschen. 

Mittlerweile arbeitet Raoul mit verschiedenen Verbänden zur „Verbesserung des öffentlichen Raums” und zur „Steigerung der Partizipation in der lokalen Gemeinschaft und lokalen Entscheidungsprozessen”. Größte Herausforderung hierbei ist, den Schalter in den Köpfen der Bürger umzulegen, um selbst aktiv das Umfeld bzw. den öffentlichen Raum mitzugestalten und pfleglich zu behandeln. Ähnlich wie mein oft thematisiertes Müllproblem, fühlt man sich nicht verantwortlich. Man geht davon aus, dass das alles eben Aufgabe der Stadtverwaltung ist.

Seit einiger Zeit lancierte Raoul beispielsweise an einem Begrünungs-Projekt in der Medina: Mit Spendengeldern pflanzt die junge, engagierte Gruppe regelmäßig Jasmin in den Gassen. Das ist nur eine von vielen Aktionen, die das Miteinander vor Ort fördern sollen. 

Kulturangebote vor Ort

Im Laufe der Zeit hat Raoul seinen Fokus auf kulturelle Entwicklungszusammenarbeit gelegt und bewegt sich in einem Netzwerk der hiesigen jungen Kreativszene wie Fotografen, Fashion-Designern und anderen Architekten.

Es klingt super, dass sich insbesondere auch in Tunis „Downtown” etwas tut und es die Kreativen nicht nur nach La Marsa zieht. So spricht Raoul uns direkt ein paar Empfehlungen aus.

Central Tunis

Da Raoul’s Interesse vorrangig auch der Etablierung kultureller Einrichtungen und Aktivitäten wie jüngst beispielsweise dem feministischen Festival „Chouftouhonna” oder vielfältigen Ausstellungen, ist die urbane Galerie namens Central Tunis eine nennenswerte Adresse. Central Tunis verfolgt den Traum von offener Kunst und Expositionen, die zu einem besonderen Erlebnis werden.

Alle paar Monate werden von hiesigen Künstlern, Denkern und Freigeistern neue Themen konzipiert. Neben Ausstellungen finden hier regelmäßig Workshops vorzugsweise für Jugendliche zu verschiedenen Themen wie z.B. Kalligrafie statt. Auf dem Laufenden halten kann man sich derzeit ganz gut über die Facebookseite.

32Bis

Eine weitere interessante Adresse stellt die Galerie 32Bis dar, die im alten, dreistöckigen Verwaltungsgebäude des ehemaligen Philips-Werks untergebracht ist. Das 1960er-Jahre-Gebäude ist nun ausschließlich der urbanen Kunst gewidmet. Yosr Ben Ammar (Kanvas Kunstgalerie und Hope Contemporary) und Mehdi Ben Cheikh (Galerie Itinerance in Paris) engagierten sich voller Überzeugung, die ersten Schritte einer ganzen Generation von Künstlern zu begleiteten. Zur Einweihung dieses ungewöhnlichen Ortes nahmen tunesische und internationale Künstler an der ersten Ausstellung „Urban Project” teil. Aus Spanien reisten Btoy und David de la Mano an. Neben Werken der kenianischen Künstlerin Wise 2 und der humanistisch engagierten Amerikanerin Swoon, gesellten sich tunesische Künstler wie elSeed, DaBro, Shoof und Inkman, die man teils auch von ihren Wandbildern aus Djerbahood kennt. 

Bei unserem nächsten Aufenthalt in Tunis werden wir sicherlich auch der Galerie 32bis in der Rue Ben Gedhahem einen Besuch abstatten. Zur Zeit wird das Gebäude erweitert und grundsaniert um im Herbst zu eröffnen und auch Künstlerresidenzen anzubieten. 
Zu finden ist die Galerie 32Bis auf Instagram.

Goethe Institut

Was viele nicht auf dem Schirm haben, ist, dass das Goethe Institut viel mehr auszeichnet, als das Lehrprogramm der deutschen Sprache Tunis sowie die Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit. Laut Raoul veranstaltet das Institut vor Ort die coolsten Kultur-Events. Die junge Direktorin vor ein paar Jahren hatte mit ihrem Amtsantritt ins Institut viele junge und kreative Leute ins Boot geholt, die allesamt das Ziel verfolgen, die urbane Szene anzusprechen, soziale und künstlerische Projekte umzusetzen und zu fördern, wie Fashionshows von jungen Designern in ungewöhnlichen Locations, ökologisch wertvollen Workshops wie Papierschöpfen, Upcycling oder ähnliches.

LGBTQIA+

Wir sind positiv überrascht und staunen, dass im Gegensatz zu vielen anderen muslimischen Ländern laut Raoul, in Tunesien auch ein Queer-Film-Festival sowie Drag-Queen-Shows möglich sind. Solange Veranstaltungen einen künstlerischen oder akademischen Hintergrund besitzen, sind diese auch halb öffentlich möglich. 

Auch wenn sich in den Köpfen noch einiges ändern muss, bedeutet dies für etliche ein enormer Fortschritt. Auch das Goethe Institut engagiert sich mit einem Projekt namens „Jeem”. Diese Plattform gibt jungen Frauen und Männer gleichermaßen in Tunesien und Deutschland die Möglichkeit, ihre Ansichten zu äußern und sich über verschiedene Aspekte von Sexualität und Gender in der MENA Region auszutauschen. 

Die feministische Organisation „Chouf” setzt sich seit seit Jahren in Tunesien für körperlichen, sexuellen und individuellen Rechte von Frauen ein und organisiert auch regelmäßig vielfältige Veranstaltungen. 

Und wenn wir schon beim Thema sind: Donnerstag finden im Club Gingembre queer-friendly Parties unter dem Namen „Glitterdaze” statt.

Fehlender Gesamt-Überblick

Von Deutschland aus erweist es sich – wie bereits erwähnt, als noch schwieriger, up to date bezüglich der kulturellen und kreativen Angebote zu bleiben. Wenn überhaupt, erfährt man über die sozialen Netzwerke erst im Anschluss davon. Wirklich schade, dass es bisher keine Plattform, weder in Form eines Magazins oder einer Website gibt, die die Informationen zu anstehenden Aktionen und kreativen, kulturellen oder sozialen Aktivitäten, Tanzveranstaltungen, Kinofilmen, Lesungen oder Ausstellungen bündelt und aktualisiert. 

Journal de la Medina

Raoul rief mit zwei Freundinnen insbesondere zur Wertschätzung der Medina vor ein paar Jahren das Journal de la Medina ins Leben und waren seitdem in seiner Nachbarschaft auf der Suche nach Geschichten sowie Gesichtern der Medina, durchstöbern Geschäfte, Werkstätten und kamen mit den Bewohnern und Kunsthandwerkern vor Ort ins Gespräch. Das Magazin war ursprünglich als Projekt von den Bewohnern für die Medina angedacht, doch aktuell steckt das Blatt in einer Umstrukturierungsphase um seine Kräfte besser zu bündeln und es weiter auszubauen und zu verbessern. 

Egal in welche Richtung es geht, wir fänden ein Projekt dieser Art wirklich wunderbar und bieten gern unsere Unterstützung an.

Pläne für die Zukunft

Bei aller Liebe zu Tunesien hat Raoul einen gravierenden Kritikpunkt an seiner Wahlheimat, in dem wir uns ausnahmsweise nicht einig sind: Er mag keinen Thunfisch! Unsere Lacher hat er sicher 🙂

Seine Doktorarbeit hat Raoul kürzlich abgeschlossen. Über die Zeit hat Raoul sich hier einen gemischten Freundeskreis aufgebaut. Einige von ihnen sind Tunesier, einige sind Ausländer, die meist im Rhythmus von 3-5 Jahren nach Projektabschluss das Land wieder verlassen. Dies führt zu regelrechten Wellen von Neuzugängen und Abschieden. 

Falls Raoul weiterziehen sollte, steht fest das es mit einem lachenden und einem weinenden Auge geschehen wird, denn Tunis ist seine Heimat geworden. 

Wir haben uns über den netten Kontakt und den kleinen Einblick in Raoul’s Leben gefreut. Sobald wir nach Tunis kommen, wollen wir uns treffen. Ansonsten bleiben wir gespannt, wohin es ihn als nächstes verschlägt und wünschen von Herzen alles Gute!

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